Der Marathon ihres Lebens: Susannes Leben mit dem Multiplen Myelom
«Erstmals gespürt, dass mit meinem Körper etwas nicht stimmt, habe ich an einem Marathon im Frühling 2015», erzählt Susanne. Trotz guter Vorbereitung fiel es der damals 55-Jährigen schwer, das Rennen zu Ende zu laufen. Bis dahin hatte sie etliche Wettkämpfe in diesem Umfang ohne Probleme absolviert. «Ich war etwas verunsichert, doch schrieb ich dies zunächst dem zunehmenden Alter zu», erzählt sie.
Susanne ist eine Sportlerin durch und durch. Triathlons, Half-Ironman-Rennen, Marathons, Bergtouren, Skifahren, Langlaufen – Bewegung in der Natur war immer ein zentraler Teil ihres Lebens. «Eine Quelle der Freude», wie Susanne sagt. Genauso wie sie kulturell interessiert ist, gerne liest und Museen besucht. Zu dieser Zeit führte sie zusammen mit ihrem Mann ein Buchantiquariat in Zürich.
Alarmglocken
Nach der Sommerpause wollte sich Susanne für einen weiteren Wettkampf vorbereiten, doch nach wenigen Metern schon war das Joggen unmöglich. «Ich konnte nicht mehr durchatmen und hatte arge Rückenschmerzen», erinnert sich Susanne. Nach einer Behandlung durch den Chiropraktiker ging es ihr zwar kurzzeitig besser, doch kehrten die Symptome zurück. Ende Dezember 2015 bemerkte sie, dass ihr Urin Schaum aufwies. Bei der ausgebildeten Pflegefachfrau schrillten die Alarmglocken. «Ich wusste, dass genauere Abklärungen nötig waren und ging zur Hausärztin», erzählt Susanne. Und diese hat einen Verdacht: Sie veranlasst umgehend ein Blutbild und eine Röntgenaufnahme von Susannes Wirbelsäule. «Das Röntgenbild zeigte mögliche Frakturen und ich wurde nach wenigen Tagen zu einer erneuten Blutentnahme gebeten.»
Hiobsbotschaft an Weihnachten
Es ist kurz vor Weihnachten, die Hausärztin sagt: «Sollte etwas sein, melde ich mich». Der Anruf lässt nicht lange auf sich warten.
«Gedanken an meine begrenzte Lebenszeit kamen unweigerlich, besonders als ich mich an die wenigen Therapiemöglichkeiten aus meiner Ausbildung erinnerte.»
«Es besteht grosser Verdacht auf ein Multiples Myelom», hört Susanne ihre Ärztin am anderen Ende der Leitung sagen. Im ersten Moment sei sie geschockt gewesen, habe die Diagnose kaum fassen können. «Gedanken an meine begrenzte Lebenszeit kamen unweigerlich, besonders als ich mich an die wenigen Therapiemöglichkeiten aus meiner Ausbildung erinnerte». Ein Handbuch, das bei Susanne im Regal stand und dessen Titel «Anleitung zum Abschied meiner Lebensreise» hiess, schien ihr plötzlich sehr real.
Neue Hoffnung
Gleich am folgenden Tag bekommt Susanne einen Termin beim leitenden Arzt der Hämatologie. Seine ruhige, emphatische Art und die ausführlichen Informationen des Arztes über diese komplexe Krankheit, sowie die kompetente Betreuung des Teams, hätten ihr Vertrauen und Zuversicht gegeben, erzählt Susanne. Eine Knochenmarkpunktion bestätigte das fortgeschrittene Multiple Myelom und ein CT zeigte mehrere Wirbelfrakturen sowie ein gebrochenes Brustbein. «Die Diagnose war ein Schock», sagt Susanne.
«Es geht immer weiter…»
Susannes härtester Marathon beginnt. An ihrer Seite ist ein liebevoll unterstützendes Netz aus ihrem Mann, Patenkindern, Freunden, Verwandten und Bekannten. «Diese Unterstützung war extrem wertvoll», erklärt Susanne. Zugleich lernt sie: «Es kann einem noch so schlecht gehen, es gibt Ressourcen – und es geht immer weiter».
«Es ist unendlich viel härter. Und während man bei einem Marathon wenigstens die Ziellinie vor Augen hat, weiss man bei der Krebsbehandlung nie, wohin der Weg führt.»
Die Behandlung musste sofort beginnen, da die von den Krebszellen produzierten Eiweisse im Blut, sogenannte freie Leichtketten, sehr hoch waren und daher auch Brüche entstanden. «Zunächst erhielt ich eine wöchentliche Therapie, um die Krebszellen zu minimieren. Danach wurden Stammzellen aus meinem Blut entnommen und tiefgefroren», so Susanne. Sie wird zwei Wochen im Spital isoliert und ihr Immunsystem wird mit einer starken Hochdosis-Chemotherapie komplett zum Erliegen gebracht. Nach der Rückgabe der Stammzellen treten starke Nebenwirkungen auf, Susanne leidet unter höllischen Gelenkschmerzen, das hochdosierte Kortison macht ihr zu schaffen.
Ein Marathon sei nichts im Vergleich zu diesem Weg. «Es ist unendlich viel härter. Und während man bei einem Marathon wenigstens die Ziellinie vor Augen hat, weiss man bei der Krebsbehandlung nie, wohin der Weg führt.»
Zurück in einen fast normalen Alltag
Trotz allem schöpft Susanne immer wieder Kraft. Sie findet Halt in der Meditation, Autosuggestion und ihren Erfahrungen als Sportlerin. Die Therapie bringt den gewünschten Erfolg, und langsam kehrt sie in einen fast normalen Alltag zurück.
Die Arbeit im Buchantiquariat ist zwar nur noch begrenzt möglich, doch kann Susanne wieder mit dem Hund spazieren gehen und sogar mit einem leichten Lauftraining beginnen. «Die psychologische Begleitung der Krebsliga und die rhythmische Massage halfen mir, Vertrauen in meinen Körper zurückzugewinnen», erklärt Susanne. Zugleich ist jeder Schritt ein Balanceakt zwischen Vorsicht und Vertrauen – sie weiss, wie schnell ihre Knochen brechen. Trotzdem wagt es Susanne immer wieder, ihre Grenzen auszuloten, gewinnt Stück für Stück Vertrauen in ihren Körper zurück und schafft es sogar, mit ihrer Patentochter den Gipfel des Piz Languard (3’262 m ü. M.) zu besteigen – «ein echtes Lebenszeichen», wie Susanne sagt. Denn genau solche Erlebnisse sind es, von denen Susanne in schwierigen Zeiten zehrt.
Im Sommer 2018 verschlechterte sich Susannes Zustand erneut; nach einem Spaziergang spürt sie wieder starke Schmerzen. Eine Untersuchung zeigt, dass weitere Wirbel eingebrochen sind. Es folgt eine zweite Hochdosis-Chemotherapie mit autologer Stammzelltransplantation. Diesmal bleiben die Schmerzen aus, doch Susanne leidet unter starker Übelkeit und einem extrem hohen Puls. In den folgenden Jahren durchläuft sie eine Erhaltungstherapie und weitere Behandlungen, die von belastenden Nebenwirkungen begleitet werden. Bis Herbst 2023 sind schliesslich alle verfügbaren Therapiemöglichkeiten für das Multiple Myelom ausgeschöpft.
In dieser Zeit erleidet Susanne wiederholt Knochenbrüche, die operiert oder bestrahlt werden müssen. Mehrmals steht ihr Leben auf der Kippe, Susanne meldet sich bei einer Palliativorganisation an. «Ich habe mich sehr intensiv mit dem Tod auseinandergesetzt, zugleich war ich noch nicht bereit zu gehen», sagt Susanne, und ergänzt: «Ich hatte gehofft dem unheilbaren, fortschreitenden MM zu entkommen, doch musste ich nun akzeptieren, dass die Krankheit Teil meines Lebens geworden war».
Auch wenn Susanne immer wieder am Ende ihrer Kräfte ist, so spürt sie, wie neue Ressourcen in ihr aufkommen. Sie entdeckt ihre Kreativität neu, malt, findet Kraft in der Natur und in zwischenmenschlichen Kontakten. Mit ihrem Mann unternimmt sie kleinere Reisen, geniesst Ausflüge mit ihren Patenkindern und schafft wertvolle Erinnerungen. Ihre Erkenntnis: «Nach jedem anstrengenden Schritt kehrt auch wieder ein wenig Leichtigkeit zurück.»
Hohe Lebensqualität dank neuer Therapie
Diese Erkenntnis trifft auch auf die Therapieoptionen zu. Seit einem Jahr erhält Susanne eine neuartige Immuntherapie, auf welche sie sehr erfolgreich anspricht. «Es geht mir zurzeit recht gut und ich kann wieder aktiv am Leben teilnehmen».
«Ich bin voller Dankbarkeit – für jeden Tag, den ich bewusst erleben darf, und für die Chancen, die mir das Leben immer wieder bietet.»
Was sie ihr Weg gelehrt hat?
«Selbst in den dunkelsten Zeiten sind Kraftquellen zu finden, die mir helfen, weiterzumachen.» Diese Zuversicht hat Susanne durch alle Herausforderungen getragen. Trotz allem sieht sie sich als Glückskind: «Ich bin voller Dankbarkeit – für jeden Tag, den ich bewusst erleben darf, und für die Chancen, die mir das Leben immer wieder bietet.»
Anderen Betroffenen und ihren Angehörigen möchte Susanne Mut machen: « Die Diagnose eines fortgeschrittenen Multiplen Myelom ist schwer, doch gibt es Hoffnung und die Möglichkeit auf eine fortlaufende Verbesserung der Therapien».
Redaktion: Leben mit Krebs, Anna Birkenmeier
PP-UNP-CHE-1217 Jan 2025